Im Schatten von Lüge und Macht

Rundgang durch die Machtzentrale der ehemaligen DDR-Staatssicherheit (1,5km)

Neubrandenburg war zu DDR-Zeiten eine rote Stadt: SED-Bezirksleitung mit Parteischule, Rat des Bezirkes, Rat des Kreises, FDJ-Leitung, Nationale Volksarmee(MB5, Fünfeichen, Fliegerhorst), Polizei, Bahnpolizei und Stasi waren omnipräsent. Ob nun Kraftfahrer, Wärter, Kantinenfrau, Politkader oder Offizier: Viele Mitarbeiter waren von ihrer Sache überzeugt, viele haben es genossen, Macht über andere auszuüben, andere liebten Ihren Beruf, die meisten waren Mitläufer und alle verdienten mit Ihrer Tätigkeit viel Geld. Zur Zeit der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) war das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) Garant für den Machterhalt des SED-Staates und Synonym für Spitzelei und Unterdrückung von anders Denkenden. Die friedliche Revolution von 1989 fegte alles hinweg und beendete die Deutsche Teilung. Zu den Geschichtsanalen gehört auch, dass die bis an die Zähne bewaffneten DDR- Organe im Revolutionsnovember 1989 nicht aufs eigene Volk geschossen haben. Nach über 30 Jahren sind die Stimmen und der Geist der damaligen Bürgerbewegung überwiegend verstummt.

Wir wandern heute durch diese verblasste Geschichte, durch eine Vergangenheit, über die heute gerne Menschen urteilen, die sie selbst nie erlebten.

Unser Ziel ist das Behördenzentrum auf dem Lindenberg. Wir parken unser Auto direkt vor der Stasi- Unterlagenbehörde und wandern entlang von 6 Informationsstelen über das gesamte Gelände. Zu beachten sei, dass das Gelände nur während der wochentäglichen Dienstzeiten für die Allgemeinheit zugänglich ist.

Der riesige Dienstkomplex der ehemaligen MfS- Bezirksverwaltung Neubrandenburg entstand von 1973- 1977. Hier gingen fast 2000 Leute verschwiegenen Tätigkeiten nach. 1987 kam die Untersuchungshaftanstalt des MfS hinzu. Große Teile der Gefängnisgebäude wurden aus WBS70 – Elementen gefertigt. Neben Kriminellen und politischen Gefangenen wurden hier sogar Kombinatsdirektoren inhaftiert. Dieser letzte DDR- Gefängnisbau hat eine überraschend gute Bausubstanz und wurde nach der Schließung in den Wendejahren 1992 als Untersuchungshaftanstalt für Jugendliche erneut in Dienst gestellt. Von 2002 bis 2019 saßen hier erwachsene Straftäter ein. Die gesamte Anlage wurde stets modernisiert- von der Heizungsanlage bis hin zum Sportplatz- es stecken also Millioneninvestitionen in der JVA. Durch die letzte Justizreform im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern war die JVA Neubrandenburg plötzlich „zu klein“, bzw. je nach Sichtweise „unterbelegt“ und damit nicht mehr wirtschaftlich. Warum? In der DDR wurden mehrere Sträflinge in einen Raum gesperrt, die bundesdeutsche Norm sieht Einzelzellen vor. Seitens der Stadt Neubrandenburg fehlten Signale für den Erhalt der Strafvollzugsanstalt; hinzu kamen städtebauliche Begehrlichkeiten an der Immobilie. Die Idee von ehemaligen politischen Gefangenen, das gesamte Stasi-Gefängnis in eine Gedächtnisstätte umzuwandeln, wurde verworfen. In der Gemengelage der unterschiedlichsten Interessen von Bund, Land und Stadt gingen viele Arbeitsplätze im Justizvollzug und dadurch bedingt auch in der Justiz verloren.

Der Wanderer steht nach dem passieren einer Graffiti-Wand irgendwann vor hohen Gefängniswänden, einem riesigen stählernen Tor und kann einen Blick durch das Panzerglas der verlassenen Eingangskontrolle werfen. Dabei wird jeden freiheitsliebenden Menschen ein kalter Schauer ereilen, denn jenseits der Mauer existiert noch heute die andere Welt.

Wir gehen hinab zu einem großen Parkplatz und schauen auf einen riesigen Hallenkomplex. Damals stand hier der Stasi-Fuhrpark, heute nutzen verschiedenste Wirtschaftszweige die Gebäude als Lager oder Firmensitz. An einem großen Hallentor entdecke ich sogar noch die Reste einer Petschaft. Mit Knete und Stempel versiegelte damals die Stasi zusätzlich den Zugang zu sensibelsten Bereichen. Dann steigen wir die Treppe hinauf und gehen entlang von 7 Gebäuden zurück zu unserem Auto. Immer wieder informieren Stelen den interessierten Besucher über die damalige Funktion des Gebäudekomplexes. Verschiedenste Behörden (Finanzamt, Versorgungsamt, StalU, Justizamt) haben hier Ihren gegenwärtig Sitz.

Heute hat der zu DDR-Zeiten von der Öffentlichkeit streng isolierte Bereich seinen Schrecken verloren. Damals reichte der Arm der Staatssicherheit aus diesen Bürogebäuden sehr, sehr weit; hinter vielen menschlichen Tragödien, Karriereknicken, Abhör-& Durchsuchungsaktionen steckte das MfS mit seinen abertausenden inoffiziellen Mitarbeitern. So kann ich mich an ein Erlebnis aus Kindheitstagen verschwommen erinnern. Ich besserte mein Taschengeld auf einer Neubrandenburger Baustelle mit Ferienarbeit auf. Es war die Zeit des politischen Umbruchs in Polen. Ein junger Bauarbeiter, der mit uns zu den Mahlzeiten immer im Bauwagen saß, war plötzlich für 2 Wochen verschwunden. Sein Vergehen, so wurde später gemunkelt: Er soll mit Farbe Solidarność an eine Wand geschrieben haben.

Sogar RAF-Terroristen bekamen durch das Ministerium für Staatssicherheit in Neubrandenburg neue Identitäten: Henning Beer, alias Dieter Lenz, lebte seit 1982 im Reitbahnviertel und arbeitete bei der Geothermie als Dispatcher. Silke Maier-Witt, alias Sylvia Beyer, arbeitete seit 1987 bei der Pharma in Weitin als Abteilungsleiterin Information&Dokumentation und als Dolmetscherin.

Wir beenden unsere Wanderung da, wo wir sie begonnen haben: Vor der „Bundesbehörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“, kurz BstU genannt. Hier lagern noch tausende ungesichtete Akten und viele geschredderte Stasi-Unterlagen in großen Säcken. Allesamt beinhalten sie brisante Informationen, die über Menschen, über Firmen bis hin zu Staatsgeheimnissen berichten. Oft sind es Spitzelberichte von inoffiziellen Stasi-Mitarbeitern über Freunde oder Kollegen. Laut Stasi-Unterlagen-Gesetz kann jeder betroffene Bürger zu seinen Akten Zugang beantragen. Wer Aufklärung oder Rehabilitation sucht, muss nur noch durch die Tür mit dem Bundesadler gehen, sich ausweisen und ein Antragsformular ausfüllen.