Moderne Klangwelt in backsteingotik

Die Konzertkirche

Das Bild Neubrandenburgs wird vom höchsten Gebäude der Stadt, der 88 Meter hohen Marienkirche geprägt. Tauchen wir ein in die über 750 jährige Kirchengeschichte! Wann der Kirchenbau begonnen wurde, ist nicht belegt. Wahrscheinlich begann der Kirchenbau mit der Stadtgründung im Jahre 1248. Am 31.08.1298 sind der Ostgiebel und 4 Kirchenjoche fertig gestellt: Johann II. , Bischof von Havelberg , weihte den Hauptaltar und gab der Kirche den Namen Sankt Marien. Ende des 14. Jahrhunderts, nach über 100 jähriger Bautätigkeit, wurde mit der Kirchturmspitze der Sakralbau vollendet. In dieser langen Zeit wurde viel verändert und erweitert, so dass wir Stilelemente bis hin zur Hochgotik entdecken können. Der ca. 50cm vor der Giebelwand frei stehende Ostgiebel mit seinem Maßwerk prägte beispielgebend die gesamte norddeutsche Backsteingotik. Während der vielen Jahre der Entstehung ging es um Repräsentanz von Größe und Macht: Ständig baute man mit den Friedländern und Altentreptowern um die Wette, so dass auch in diesen Orten die größten Backsteinkirchen Norddeutschlands zu bewundern sind. Doch zurück zur bewegenden Geschichte von St. Marien! Ein Stadtbrand, der am 10.11.1614 in der Badstüberstraße ausbrach und bis zur Kleinen Wollweberstraße alles verschlang, zerstörte das Innere der Marienkirche. 1655 trifft ein Blitz den Turm- alle Glocken werden Opfer der Flammen. Der große Stadtbrand im Mai 1676 zerstörte mit dem Kircheninneren auch die Orgel. Pest und 30ig jähriger Krieg bedeuteten für Neubrandenburg wirtschaftlichen Niedergang, so dass die Marienkirche nur notdürftig repariert werden konnte. Großherzog Georg veranlasste in seiner Regentschaft die Instandsetzung der Marienkirche. Man sagt, dass der Großherzog durch Alexander von Humboldt auf die architektonische Bedeutung der Marienkirche hingewiesen wurde. Während 10 langer Jahre, von 1831-1841, leitete Friedrich Wilhelm Buttel den Bau. Sein Markenzeichen waren gelbe Ziegelsteine- das Buttelsche Werk ist heute noch deutlich erkennbar. Die Marienkirche erhielt wieder eine Turmspitze. Auch die unmittelbare Umgebung der Kirche wird durch den Abriss von Häusern weiträumig so umgestaltet, wie es sich dem Betrachter noch heute erschließt. Neubrandenburg war nun über viele Jahre ein gemütliches Ackerbürgerstädchen und blühte durch den Eisenbahnanschluss erheblich auf. Die Menschen fühlten sich im beschaulichen „Rothenburg ob der Tauber des Nordens“ recht wohl – Turnvater Jahn legte hier den Grundstein der Turnbewegung, Fontane war am Tollensesee in der Sommerfrische, Reuter schrieb seine Texte- sie alle waren bestimmt auch in der Marienkirche. 1915 stiftet Frau von Jagow eine Orgel- mit 60 Registern und 4176 Pfeifen damals die größte in ganz Mecklenburg-Strelitz. Dann die Urkatastrophe des 2. Weltkrieges: Am 29.04.1945 brannte durch Kampfhandlungen die Stadt. Vieles wurde für immer zerstört. Von der Marienkirche standen fast 30 Jahre lang nur die Grundmauern nebst Turmgebäude. Wegen immenser Kosten für einen Neuaufbau und ablehnenden Bescheiden der SED-Leitung übergab die Kirchgemeinde 1965 die Ruine an den DDR-Staat. Hätte sich die kommunistischen Führung durchgesetzt, wäre laut Beschluss der SED- Bezirksleitung vom 15.6.1966 die Marienkirche der Abrisskeule zum Opfer gefallen. Laut einer weiteren Vorlage an das Politbüro des ZK der SED vom 25.6.1968 sollte die Marienkirchenruine abgerissen werden und dafür ein Museums- und Informationszentrum entstehen. Der Kirchturm sollte, gruppiert von Pavillions, stehen bleiben. Die Pläne schritten schnell voran: In der Stadthalle Neubrandenburg wurde im Oktober 1968 zur 1. Bezirkslehr- und Leistungsschau ein Stadtmodell ohne Kirchenschiff repräsentiert. Als es bei der Sprengung der Leipziger Universitätskirche am 30.Mai 1968 in Leipzig zu Unruhen kam, ruhte das Abbruchverfahren in Neubrandenburg. Zusätzlich starke Proteste von Neubrandenburger Bevölkerung und Kirchgemeinde stoppten dann sämtliche Abrissplanungen- Gott sei Dank!  Gegen einen Abriss stand auch ein Beschluss vom 2.1.1962: Die Innenstadt mit der Marienkirche wurde damals in die Denkmalliste der DDR eingetragen. Am 4.11.1975 kaufte die Stadt Neubrandenburg die Kirchruine mit dem dazu gehörigen Grundstück. Die Marienkirche wurde profaniert, wobei das Läutrecht erhalten blieb,  und mit der Umgestaltung des Gebäudes in eine Konzerthalle mit Kunstgalerie begonnen. Für dieses gewaltige Projekt fehlte es der DDR Mangelwirtschaft jedoch an Geld und Wirtschaftskraft: 15 Jahre plante und baute man ohne spürbaren Erfolg, so dass eigentlich nur archäologische Grabungen im Kircheninneren stattfanden und die äußere Hülle in den Originalzustand versetzt wurde. Bis dahin verteidigte die kommunistische Politikpropaganda ihre Deutungshoheit: Ein kirchliches Gebäude durfte nicht höher als der moderne HKB-Kulturfinger in den Himmel ragen! Die 1982 in Neubrandenburg stattfindenden 19. Arbeiterfestspiele brachten vielen Häusern der Innenstadt einen neuen Anstrich und ein Umdenken über die fehlende Spitze. Am 1.10.1983 wurde vom Industriemontagebetrieb Merseburg mit einem riesigen blauen Kran eine neue Kirchturmspitze aus Kupfer montiert. Die Kirchturmspitze ist 30 Meter hoch und 28 Tonnen schwer.

Unter dem Kircheninneren befand sich ein großes Kellergewölbe, ähnlich dem im Stralsunder Rathaus.  Ein Jahr zuvor, im Jahre 1982 wurden stählerne Deckenträger montiert. Wegen des sehr hohen Grundwasserspiegels entschloss man sich leider, den Keller mit Beton zu verfüllen. Das Ende der Deutschen Teilung war dann ein wirklicher Neuanfang für die Konzertkirchenpläne. Kunstgalerie und Konzertsaal zusammen, dafür war genau genommen zu wenig Platz in der Marienkirche. Das Dach wurde erneut gedeckt und die zahlreichen Gauben (Fenster für die angedachte Kunstgalerie) wurden zurückgebaut. Nach einem Architekturwettbewerb im Jahre 1996 konnte der finnische Architekt Prof. Pekka Salminen seine Visionen Wirklichkeit werden lassen: Glas, Edelstahl und grauer Sichtbeton in Symbiose mit dem ehrwürdigen backsteinernen Kirchenschiff und schwebende Akustiksegel an der Decke kannte die Welt in dieser Form bis dahin noch nicht. Am 18.07.1997 wird der Turm der Marienkirche zum Aufstieg freigegeben. Dann endlich, am 13. Juli 2001, bekamen die Neubrandenburger Ihre Marienkirche mit einem feierlichen Eröffnungskonzert zurück. Die investierten 31 Millionen DM hatten sich gelohnt ! Die Akustik der Konzertkirche ist so einmalig, dass viele Künstler von internationalem Rang hier wirklich gerne spielen. Hinzu kommt ein begeisterungsfähiges Fachpublikum. Auch als Laie werden Sie von einem Konzertbesuch überwältigt sein- es ist ein Akustik-Hammer der Sinne!

Von Bürgern, Firmen und durch Benefizkonzerte gespendet, wurden 2007 fünf neue Bronzeglocken in den Turm eingebaut. Die Glocken (Marienglocke,Johannesglocke, Gebetsglocke, Sakramentsglocke und die Lob&Dankesglocke) wurden in der Karlsruher Gießerei Bachert gefertigt. Sie läuten ¼ stündlich. Allerdings kamen schnell statische Bedenken auf, ob der betagte Kirchturm die Schwingungen der tonnenschweren Glocken im Dauerbetrieb vertragen würde. Wissenschaftliche Untersuchungen, spezielle Messungen und jährliche Überprüfungen durch Industriekletterer entkräfteten die Bedenken. Der Marienkirche fehlte noch eine Orgel. Mäzen Günter Weber spendete 2017 gut 2 Millionen Euro für eine moderne Orgel, so dass nunmehr verschiedenste musikalische Impressionen durch die 2852 Orgelpfeifen im Kircheninneren möglich sind. Nicht alle Pfeifentöne hört man;  einige verspüren nur feine Sinne: Die größte Orgelpfeife versetzt den Körper des Zuhörers in Schwingungen. Viele alte Leser dieses Textes werden sich durch tiefe Orgeltöne vermutlich in ihre Jugend und in ihre heimatliche Kirche an den Blasebalg versetzt fühlen: So lange der Organist hohe Töne spielte, kam man mit dem blasen gut mit, aber wehe es folgten lange, tiefe Oktaven! Dann wurde die Arbeit am Blasebalg zum schweißtreibenden Hochleistungssport!

Wenn keine Proben und keine Vorstellungen in der Konzertkirche stattfinden, können Besucher alles in Augenschein nehmen, den Glockenstuhl durchkraxeln und den schönsten Rundumblick auf Neubrandenburg in 45 Metern Höhe von der Balustrade genießen. Die sehr empfehlenswerte Ausstellung „Wege zur Backsteingotik“ und eine Multimedia-Show im Kirchturm- Oktogon komplettieren das einmalige Besuchserlebnis. Planen Sie gut und gerne 1,5 bis 2 Stunden für eine gründliche Besichtigung ein.