Auf Spurensuche in Neubrandenburg – Tag des offenen Denkmals 2022

Forensik in der Denkmalpflege- die Gedenkstätte Fünfeichen

Der Tag des offenen Denkmals 2022 begann in Neubrandenburg pünktlich um 09:30 Uhr: Harry Schulz, ehemaliger Neubrandenburger Denkmalpfleger mit dem Schwerpunkt Mittelalter, ludt in die Gedenkstätte Fünfeichen ein. Unterstützt von Frau Dr. Rita Lütdtke tauchte er mit seinen Zuhörern in die geschichtliche Aufarbeitung der Schicksale der Gefangenen im Kriegsgefangenenlager von Fünfeichen ein. Der Stalag II- Friedhof wurde 1939 angelegt. Auf den namenlosen Holzkreuzen oder Grabsteinen wurden immer Geburtsdatum, Sterbedatum und Kriegsgefangenen-Nr eingemeißelt. Russische Kriegsgefangene wurden unmenschlich behandelt. Harry Schulz berichtete, dass einmal allein 60 russische Kriegsgefangene auf dem Fußmarsch ins Lager in der steilen Bergstraße entkräftet umfielen und starben. Sie wurden auf einen Karren verladen und irgendwo im Wald verscharrt. Ehe die Kriegsgefangenen nach Gefangennahme und Durchgangslager in Fünfeichen ankamen, verstarben viele. Da erst in Fünfeichen die Registrierung sämtlicher STALAG II-Kriegsgefangener statt fand, sind somit viele Opferzahlen und deren Namen vakant. Nach dem 2. Weltkrieg wurde das Lager Fünfeichen von der Siegermacht Sowjetunion zum das NKWD- Lager 9 umgenutzt. Von 1947 bis 1949 exhumierten Amerikaner, Engländer und Niederländer ihre verstorbenen Kriegsgefangenen und beerdigten ihre Soldaten auf ihren heimischen Heldenfriedhöfen. Von 1957- 1962 wurde für 200.000 Mark der STALAG II- Friedhof in eine Gedenkstätte umgewandelt- alle Kreuze wurden abgeräumt, die Fläche wurde planiert, so dass die schon ohnehin anonymisierten Grabstellen nicht mehr identifizierbar waren. Von 1979 bis 1990 wurde das Gebiet der ehemaligen Kriegsgefangenenlager als NVA- Übungsgelände genutzt- über die Geschehnisse und Opfer der Kriegsgefangenenlager breitete sich ein Nebel des Vergessens. Mit dem Ende der Deutschen Teilung begann in Fünfeichen die Aufarbeitung. Harry Schulz berichtete über seine Suche mit Hacke und Spaten nach den vergessenen Gräberfäldern der ungezählten Kriegsgefangenen im angrenzenden Mühlenholz, über die Ergebnisse der Greifswalder Gerichtsmedizin , den Einsatz eine Georadars im Jahr 2011 und er zeigte viele Bilder, aber auch Kriegsgefangenenmarken. Im Gebüsch fand man das originale Eichen-Holzkreuz. Es wurde liegend auf dem Gräberfeld installiert. In Podolsk bei Moskau tauchte eine Kartei mit 6000 russischen Namen auf. So konnten vielen Toten ihre Namen zurückgegeben werden. Wie viele Menschen in Fünfeichen liegen, so berichtete Harry Schulz, kann man manchmal nur anhand der Schädel in einem Massengrab schätzen- die Pietät verlangt es, nicht den ganzen Friedhof umzugraben. Keinen Anstand zeigte in den Augen der Besucher ein Pilzsammler: Er wanderte über das Gräberfeld des STALAG II und sammelte geruhsam Pilze- keine 70 cm unter der Wiese liegen tausende Tote! Frau Dr. Lüdtge berichtete über das NKWD-Lager Nr. 9 und die Arbeitsgemeinschaft Fünfeichen. 1999 wurden auf dem südlichen NKWD-Friedhof Bronzetafeln mit 5169 Namen errichtet. Jedoch weiß keiner, ob das jeweilige Opfer auf dem Nord oder Südfriedhof ruht. Am 17. September 2022 findet eine Gedenkveranstaltung der Arbeitsgemeinschaft Fünfeichen in der Hochschule Neubrandenburg und in der Gedenkstätte Fünfeichen statt.

Vernichtung durch Arbeit - Der Waldbau im Nemerower Holz

11:00 Uhr erwarteten Frau Elenore Wolf vom Stadtarchiv und Dr.Martin Müller-Butz von der Zeitlupen Geschichtswerkstatt interessierte Besucher am Eingang des Waldbaus. Das Gelände ist auf Grund der Gefahrenlage (abseits der Wege gibt es Gruben, Stahlbewährungen usw.) eingezäunt und nicht zugänglich. Leider überschnitt sich diese Veranstaltung mit der in Fünfeichen, so dass vermutlich die Besucherzahlen der jeweiligen Veranstaltung deutlich höher wären.

Das 7 Fußballfelder große Gelände des Waldbaus steht nicht auf der offiziellen Denkmalliste der Stadt Neubrandenburg. Über viele Jahre blockierte der Forst ( vermutlich waren einfache versicherungstechnische Belange der Grund) eine Erschließung als Gedenkstätte. Durch Initiative der ehemaligen Landtagspräsidentin von MV, Frau Silvia Brettschneider, gelang eine Anschubfinanzierung mit 100.000 € Fördergeldern. Auch Landwirtschaftsminister Till Backhaus, als oberster Forst-Chef, war ein Fürsprecher, dass der Waldbau ein Ort der Erinnerung der Erinnerung wird. Der Waldbau wird jedoch vermutlich nie ein Museum.

Im Waldbau mussten 1400- 2000 Zwangsarbeiterinnen für die Mechanischen Werkstätten Neubrandenburg arbeiten. Sie errichteten mit einfachsten Mitteln die getarnte Produktionsstätte und produzierten unter unmenschlichen Bedingungen Kleinteile für das V1- Raketenprogramm. Dr. Müller-Butz berichtete aus dem Häftlingsalltag, zeigte Zeichnungen von Insassinnen und spielte auf einem mobilen Gerät Augenzeugenberichte, aber auch Lyrik (Gedichte) der verzweifelten Frauen ab. Die Frauen hatten im Waldbau keine Namen, nur Häftlingsnummern. Eine künstlerische Tropfeninstallation der Künstlerin Imke Rust, auf denen ihre Namen eingraviert sind, gibt 500 Frauen ihre Idendität zurück. Häufig wurde den Frauen die Haare abrasiert- wer kurze Haare behalten durfte, hatte jedoch keinen Kamm. Das ist der Hintergrund der Kamm-Skulpturen, die auf dem Gelände aufgestellt wurden. Am 27.04.1945 erlag die Produktion – kein Strom und kein Material. Das Lager wurde Tags darauf (28.04.1945) evakuiert und die Zwangsarbeiterinnen in den Todesmarsch geschickt. Am 3. Mai wurden sie in der Gegend von Parchim durch die Engländer befreit. Die Aufseherinnen flüchteten in Zivilkleidung. Ihre Namen kannte keiner. Mitte der 70er Jahre begannen Prozesse gegen Mitarbeiter und Wachleute, denen man habhaft wurde. Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen nachzuweisen, war somit sehr schwierig…welche der erzählten Aufseher-Geschichten war nach 30 Jahren noch authentisch? Viele Zwangsarbeiterinnen waren zu diesem Zeitpunkt schon tot.

Die Geheimnisse des Stargarder Tores

Baudenkmal-Sachbearbeiter Karsten Heilmann und Diplom-Prähistoriker Burkard Prehn luden um 15:00 Uhr zu einer Begehung des Stargarder Tores ein. Dendrologische Untersuchungen belegen: Das Stargarder Tor wurde 1311 erbaut, später (1340) kam das Vortor dazu. Doch vieles liegt im dunkeln und muss noch erforscht werden. Es gibt so gut wie keine schriftlichen Dokumente aus der Entstehungszeit des Stargarder Tores. Die über 30 Besucher brachten teilweise großes Fachwissen mit- man philosophierte gemeinsam mit den Denkmalpflegern über die mittlere Adorantin, über Mauerfugen, Holzreste, die einfache Ziegeldeckung mit Spliss und über mittelalterliche Ziegelsteinformate. Höhepunkt war natürlich die Besichtigung des Stargarder Tores von innen und das Erkunden der ehemaligen Wohnung des Konzertkirchenarchitekten Josef Walter im Vortor. Nach dem Tod des Architekten lebte seine Frau Brigitte noch einige Jahre im Vortor. Als sie jedoch stürzte, konnte sie die wohl ungewöhnlichste Wohnung Neubrandenburgs auf Grund der sehr steilen Treppen sehr schwer nutzen. Die Wohnung stand leer. Nunmehr gibt es durch die Stadt Neubrandenburg Gedanken für eine mögliche Nutzung, vielleicht als Ferienwohnung? Die Räumlichkeiten haben alles- Heizung, Telefon/Internetanschluss, Badewanne, WC, Küchenzeile… und sogar einen innenliegenden Kamin-Schornstein. Trotz der exklusiven Lage ist alles beengt und kompromissbehaftet- die Deckenhöhe beträgt ca.1,85 Meter, die Zargenhöhe der Türen liegt darunter. Eine sehr schmale Ziegelstein-Wendeltreppe führt in die Wohnung. Im Mittelalter stiegen die Torwächter hier hinauf, um das Torgitter zu bedienen. In die obere Etage der Wohnung gelangt man über eine steile Raumspartreppe. Für eine erste Baubegutachtung wurde der Holzfußboden an einigen Stellen aufgerissen und an einer Stelle der Putz entfernt. Eklatante Baumängel wurden vermutlich nicht entdeckt. Wie schwierig ein denkmalgerechter Ausbau mit verträglichen Baumaterialien war und ist, zeigte sich an einer anderen kleinen Stelle: Der Ziegelstein unter der mit Dispersionsfarbe bemalten Wand hatte sich nach vielen Jahren in Ziegelmehl aufgelöst. Hinter der 2. Tür, auf der gegenüber liegenden Seite des Vortores befand sich die ehemalige Wachstube. Für die Besichtigung und die Begutachtung des mittelalterlichen Kreuzrippengewölbes brauchte man eine gute Taschenlampe.

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